Unwürdiges Theater auf dem Rücken behinderter Menschen

Am 1. Januar 2020 tritt die dritte Stufe des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in Kraft, eigentlich ein Meilenstein, um die Inklusion in unserer Gesellschaft zu verbessern.

Das BTHG soll Menschen mit Behinderungen mehr Selbstbestimmung und eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Unterstützung ermöglichen. Betroffene können dann beispielsweise selbst entscheiden, ob sie weiterhin in Heimen oder bei ihren Familien wohnen wollen oder ob sie selbstständig leben möchten und welche Hilfen sie dafür in Anspruch nehmen.

Für die Einrichtungen und Dienste bedeutet das erheblichen Aufwand, weil sie den Bedarf jedes Einzelnen ermitteln und entsprechende Verträge abschließen müssen. Berechtigterweise fordern die Träger, dass sie diesen Mehraufwand zur Einführung und Umsetzung des BTHG erstattet bekommen, das Land weigerte sich aber bislang diese Kosten zu übernehmen. Die Folge ist, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Diensten und Einrichtungen weniger Zeit für ihre eigentliche Aufgabe, die Arbeit mit behinderten Menschen und die Unterstützung der Angehörigen, haben.

Bis vorgestern waren Sozialminister Lucha und Finanzministerin Sitzmann nicht in der Lage, eine Einigung mit der kommunalen Seite zur Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes hinzubekommen. Und die Leistungserbringer – vor allem Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege – wissen immer noch nicht, in welcher Höhe die Kosten übernommen werden, die durch die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes auf sie zukommen.

Dagegen demonstrierten Betroffene, Angehörige und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Sozialeinrichtungen aus ganz Baden-Württemberg am 11.12.2020 vor dem Landtag, da sie sich vom Sozialministerium im Stich gelassen fühlen. Obwohl die Problematik lange bekannt war, hatte Minister Lucha kein Geld dafür im Haushaltsentwurf eingeplant. Vor zwei Tagen teilte das Ministerium dann mit, es werde den Trägern die Hälfte der Kosten erstatten. Auf der Demonstration gestern verkündete Minister Lucha sozusagen in letzter Sekunde, das Land sei nun doch bereit die gesamten Kosten zu tragen. „Fragen, die schon lange bekannt waren und hätten geklärt werden können nun auf so eine Weise zu lösen, ist ein unwürdiges Theater auf dem Rücken der Betroffenen,“ findet der Landtagsabgeordnete Andreas Kenner.

Die Liga-Verbände haben schon vor Monaten dem Ministerium detaillierte Aufstellungen zum erwarteten Mehraufwand bei der Einführung des BTHG vorgelegt. Dass Minister Lucha nach der Ankündigung der Kostenübernahme auf der Demonstration nun in einem Schreiben an die Liga die Kosten doch nur auf Nachweise erstatten will, ist kein guter Stil und beschädigt die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Trägern der Eingliederungshilfe.

„Ich unterstützt die Forderungen der Demonstranten, die Mehrkosten müssen den Leistungserbringern bedingungslos und unbürokratisch zur Verfügung gestellt werden“ meint Andreas Kenner. Eine detaillierte Nachweisepflicht statt einer pauschalierten Kostenerstattung hat doch auch zur Folge, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt werden, statt ihre Arbeit mit und für behinderte Menschen leisten zu können“, stellt Kenner fest.

Das Minister Lucha mit der Nachweispflicht die Träger unter Generalverdacht stellt, trägt nicht zur Lösung des Problems bei. „Statt öffentlich und medienwirksam in wild-west-manier den Show-Down zu suchen und ein Spektakel auf dem Rücken der Betroffenen abzuhalten, soll Minister Lucha endlich vertrauensvoll mit den Trägern der Eingliederungshilfe eine Lösung im Sinne der behinderten Menschen und ihrer Familien suchen“, fordert Kenner.